Josiah
Gilbert / George C. Churchill / herausgegeben von Erwin Brunner:
Die Entdeckung der Dolomiten
So ein hübsches kleines Büchlein - so groß das Thema, so handlich das gedruckte Werk. Leineneinband, Lesebändchen; ein bibliophiles Meisterwerk. Ein Buch, um sich darin zu verlieren - wie gut, dass die Sommertage, an denen man keine Zeit zum Lesen hat, noch etwas auf sich warten lassen.
Und so kann man sich ohne schlechtes Gewissen in die
Dolomitenreisen vertiefen, die zwei Engländer in die Tiroler und Kärntner
Bergwelt, vor anderthalb Jahrhunderten noch einem Staat zugehörig, gemacht
hatten.
Dolomiten
statt Schweiz
Es war die Zeit, als die Alpenreisen der betuchten Engländer in
die Schweiz gingen. Alles drumherum, links und rechts, war eher uninteressant.
Wie heute noch: Den Menschen zieht es dorthin wo es alle anderen auch hinzieht.
Die Einheimischen nannten sie die „bleichen Berge“,
ihr heutiger Name geht auf das Gestein zurück, das nach dem französischen
Geologen Déodat Gratet de Dolomieu benannt ist. Doch dass alle Welt diese
Gebirgskette als „Dolomiten“ kennt, ist dem englischen Maler Josiah Gilbert und
dem Naturforscher George C. Churchill zu verdanken. Insgesamt dreimal (1861,
1862 und 1863) bereisten die beiden zusammen mit ihren Frauen in der Kutsche,
mit Packtieren und auf weiten Strecken zu Fuß das Gebiet der Dolomiten. Immer
wieder zeigt sich in ihren Aufzeichnungen das Staunen und die Begeisterung über
die Erhabenheit der Berge.
Vor gut 150 Jahren also bereisten zwei englische Gentlemen und
ihre Ladys eine lockende Terra incognita. Staunend. Begeistert. Immer wieder.
In der Kutsche, mit Packtieren, auf weiten Strecken zu Fuß. Die ersten
Touristen! Ihr Reisebericht „The Dolomite Mountains“ erschien 1864 in London
und rückte die zuvor nur Einheimischen bekannten „Bleichen Berge“ erstmals
eindrucksvoll in den Blick der Welt.
Heute sind die damals eher verschmähten Dolomiten ein
Sehnsuchtsziel im Herzen der Alpen, eines der beliebtesten Urlaubsziele
überhaupt, und seit zehn Jahren sogar Unesco-Weltnaturerbe. Die „einzigartige
monumentale Schönheit“ des Gebirges im Herzen der Alpen, zwischen dem
germanischen Norden und dem mediterranen Süden, wurde durch dieses Buch
entdeckt, erkundet und gefeiert.
Kletterabenteuer reizten die beiden Autoren nicht,
umso mehr aber diese unbekannten Gegenden, „die von den englischen Reisenden
vernachlässigten südöstlichen Alpen“, die heute zum UNESCO Weltnaturerbe
zählen. Tatsächlich waren Gilbert und Churchill zuvor bereits in der Schweiz
gewesen und sogar in den Pyrenäen, doch die Schweiz war damals schon ein
touristischer Hotspot und von Engländern überlaufen. In den Dolomiten hingegen
gab es noch so gut wie keinen Tourismus und als die beiden in Corvara einmal
ein Gästezimmer von einem Engländer besetzt vorfanden, staunten sie nicht
schlecht – hatte sich dieser doch, von Venedig kommend, nur in die Berge
verirrt.
Die Gastfreundschaft den beiden Autoren gegenüber war
groß. Gerne wurden Zimmer in Gasthäusern für sie geräumt, es entstand gar
Streit darüber, wer sie beherbergen dürfe. Genau diese Anfangszeit des
Tourismus und die Entdeckeraugen, mit welchen die Autoren Land und Leute
beschreiben, machen das Buch heute noch lesenswert und spannend. Bad Ratzes,
die Seiser Alm, Cortina, Auronzo, Sappada … wie exotisch diese Orte für
englische Gewohnheiten und Gemüter waren, bringen sie in ihrem Buch anschaulich
zum Ausdruck. Wie waren die Zimmer, wie die Betten? Was gab es zu essen? Bekam
man Tee? Die praktischen Tipps von damals, die sich an nachfolgende Reisende
richteten, lesen sich heute wie lebendig gewordene Tourismusgeschichte.
Interessant sind nicht nur ihre Schilderungen der Landschaft,
interessant ist auch was die Autoren von den Orten und vor allem von den
Menschen, die sie bevölkerten, als beschreibenswert erachteten. Was hatten sie
nicht alles für heute nicht mehr mögliche Erlebnisse! Was sind schon 150 Jahre
im Lauf der Welt - und trotzdem trennen uns Welten von dieser Zeit.
Was einem in den Kopf kommt, wenn man sich so durch das Buch „zappt“,
und was man sich beim Lesen historischer Reiseberichte immer wieder denkt: Was
haben die Altvorderen alles aufgeschrieben! Wie interessiert uns das! Und was
bringt uns das alles! - und heute: Solche Berichte, die auch in 150 Jahren noch
interessant und lesenswert sein werden, gibt es nicht mehr. Es ist wie beim
fotografieren: Wie dankbar sind wir um alte Fotografien. Auf Papier. Und was
bringt die Zukunft? - Man braucht kein großer Pessimist zu sein um die Meinung
zu haben, dass von den millionenfach gespeicherten Knipsbildern wohl kaum eines
vorhanden bzw. von künftigen Geräten lesbar sein wird.
Sei’s drum, wir erleben es nicht mehr. Aber wir können uns in
dieses bibliophil gestaltete Büchlein nicht nur einlesen, sondern uns darin
verlieren.Passend zum Text sind auch die Illustrationen, die vom Autor Josiah Gilbert und Edward Whymper stammen.
Begleitet wird der historische Reisebericht von einem Essay des
Herausgebers Erwin Brunner, Ex-Chefredakteur von „National Geographic“. Er
hat auch aussortiert, was er als heute nicht mehr wesentlich ansah, so dass ein
straffer Reisebericht vorliegt, dem man auch heute noch folgen könnte. Was
sicher interessant wäre, bekäme man doch hautnah mit, was sich seit den 1850er Jahren
so alles getan hat. Die Reiserouten sind dankbarerweise auf einer historischen
Karte nachgezeichnet. Nur führen sie heute durch vier Staaten!
Interview
zum Erscheinen von „Die Entdeckung der Dolomiten“ mit dem Herausgeber Erwin
Brunner
Herr
Brunner, wie sind Sie auf das Buch der beiden Dolomitenreisenden gestoßen?
Original und Übersetzung stammen aus den Jahren 1864 und 1865, aktuellere
Ausgaben gibt es dazu keine …
Erwin Brunner: Meine Recherche für die Titelgeschichte von „National
Geographic“ anlässlich der Ernennung der Dolomiten zum Unesco-Weltnaturerbe ergab
unter anderem, dass das Buch von Gilbert und Churchill (und ihrer Frauen!) der
erste große, umfassende Reisebericht über die Dolomiten war. Ja, mehr noch:
dass er die Bezeichnung „Dolomiten“ überhaupt erst prägte und populär machte.
Bei den Engländern, damals die „Reiseweltmeister“, wurde „The Dolomite
Mountains“ sofort zum Erfolg. Und schon 1865 erschien in Klagenfurt der erste
Band der deutschen Übersetzung. Kein Wunder, denn dies war die Zeit einer
geradezu fiebrigen alpinistischen „Eroberung“ der Dolomiten. So bestieg der
Wiener Paul Grohmann in den 1860er-Jahren als Erster einen markanten Gipfel nach
dem anderen: Tofane, Marmolata, Cristallo, Dreischuster, Langkofel, Große Zinne
... Auch wenn Gilbert und Churchill ganz und gar keine Bergsteiger, wohl aber
leidenschaftliche Wanderer waren, wurde ihr Buch zum begehrten appetizer des frühen
Dolomiten-Tourismus. Eine ähnliche Wirkung hatte dann im deutschen Sprachraum erst
wieder Grohmanns Buch „Wanderungen in den Dolomiten“, das 1877 in Wien
erschien.
Aktuelle Ausgaben des gut 150 Jahre alten Buches der englischen Dolomiten-Pioniere? Die gibt es nur im Stil unserer Zeit, nämlich als krudes Digitalisat im Internet. Vor einer veritablen Neuauflage wäre (und ist bisher!) wohl jeder Verleger zurückgeschreckt – und das nicht nur angesichts der fast 600 Seiten der deutschen Übersetzung. Um nun aber diesen erratischen Meilenstein der Reiseliteratur wieder aufs Tapet und zum Leuchten zu bringen, habe ich mich – nach eigenem Gusto und, so hoffe ich, auch im Interesse heutiger Leser – für einen beherzten neuen Zuschnitt und zugleich jedoch stilgetreuen Auftritt des Buches entschieden.
Aktuelle Ausgaben des gut 150 Jahre alten Buches der englischen Dolomiten-Pioniere? Die gibt es nur im Stil unserer Zeit, nämlich als krudes Digitalisat im Internet. Vor einer veritablen Neuauflage wäre (und ist bisher!) wohl jeder Verleger zurückgeschreckt – und das nicht nur angesichts der fast 600 Seiten der deutschen Übersetzung. Um nun aber diesen erratischen Meilenstein der Reiseliteratur wieder aufs Tapet und zum Leuchten zu bringen, habe ich mich – nach eigenem Gusto und, so hoffe ich, auch im Interesse heutiger Leser – für einen beherzten neuen Zuschnitt und zugleich jedoch stilgetreuen Auftritt des Buches entschieden.
Was
macht den Reiz der Lektüre heute aus?
Gilbert und Churchill öffnen ein großartiges Fenster in die Welt
der Dolomiten vor 150 Jahren. Mit ihren Augen und Attitüden diese damals noch
unerkundeten Berge und Landschaften, ihre Menschen und Kulturen zu erleben, das
ist auf weite Strecken eine köstliche, unterhaltsame, aufschlussreiche Lektüre.
Erwartungen und Unerwartetes, Urteile und Vorurteile, Verständnis und
Missverständnisse – die ganze Erfahrungspalette des Reisens eben – immer mit
eingeschlossen. Interessant ist, dass diese ersten ausländischen Touristen nicht
nur Südtirol, sondern das gesamte Herzstück der Dolomiten bereisen, also das heute
völlig unterschiedlich entwickelte Gebiet zwischen Lienz, Belluno, Trient und
Brixen. Dass sie es mit unentwegtem, unbeirrbarem Staunen tun, macht den
besonderen und immer aktuellen Charme dieses Buches aus. Wieder schauen und
staunen zu lernen, das ist für mich der beste Grund, es heute neu aufzulegen.
Es nimmt ja geradezu jenes Prädikat vorweg, mit dem die Unesco 2009 die
Dolomiten zum Weltnaturerbe erkoren hat: deren „einzigartige monumentale
Schönheit“.
Sie
haben sich für einen neuen Titel entschieden, warum?
Das Buch „Die Entdeckung der Dolomiten“ zu nennen, kommt heute dem
spirit dieses Buches gewiss näher als
der trockene Originaltitel „Die Dolomitberge“. Die beiden Gentlemen und ihre Ladys
sind mit jener ureigenen Explorationslust unterwegs, die die Engländer schon
seit je in alle Welt lockt. Und wie sie in den Dolomiten jede Zinne und jeden
Zacken, jeden Kutscher, jede Küche und jede Kammer erleben und beschreiben, das
ist herrlich unmittelbar und pathetisch zugleich. Reine Entdeckerfreude eben.
Inwiefern
unterscheidet sich die von Ihnen edierte Ausgabe sonst noch vom Original?
Mir ging es vor allem darum, diesen Reisebericht aus seiner Zeitkapsel
zu lösen und vom Staub des 19. Jahrhunderts zu befreien. So habe ich viele Textstellen
gekürzt und redigiert und die manchmal doch reichlich hölzerne Übersetzung geglättet.
Auch einige der heute überholten landeskundlichen Erörterungen habe ich
weggelassen. Ebenso die längst nicht mehr mit einer Reise in die Dolomiten in
Zusammenhang gebrachten Kapitel über Kärnten und Krain sowie Churchills
„Physikalische Beschreibung des Dolomitgebiets“. All diese behutsamen Eingriffe
tun der Erzählung gut und machen die nun vorliegende Ausgabe so kompakt, dass
sie bestens in einen handlichen Band passt.
Der
Tourismus hat sich seit dem Erscheinen des Originals entwickelt, ja zu einem
Run auf die Berge geführt. Die Region zählt mittlerweile jährlich sieben
Millionen Besucher. Was würden Gilbert und Churchill wohl heute über die
Dolomiten schreiben?
Natürlich kann niemand die Dolomiten von heute mit dem Blick von
1864 beurteilen wollen. Doch ich bin überzeugt, Gilbert und Churchill würden
sich – so wie sie damals schrieben– heute erst recht „ernstlich verwahren gegen
den lärmigen, müßigen Strom der Touristen, die wenig Neigung zeigen, die
Bequemlichkeiten der Hauptstraße zu verlassen“. Sie würden gewiss nicht hinter
abgetönten SUV-Scheiben und Sonnenbrille blind und blöd in Kolonne über die
Dolomitenpässe kurven. Sie wären sicher für ein Umdenken, das mit common sense und Phantasie nach Auswegen
aus der Pervertierung der Berge sucht. Sie würden ganz einfach wieder jener
Sehnsucht und Begeisterung vertrauen, die sie schon zu ihrer Zeit wie magisch in
die Dolomiten zog: dem Bedürfnis, die „schönsten Berge der Welt“ zu Fuß und mit
allen Sinnen zu erleben und zu genießen. Zum Betrachten und Achten. Zum
Schauen, Staunen und Schützen. Sollte doch heute auch gehen, oder?
Zu
den Autoren und dem Herausgeber:
Josiah Gilbert (* 1814
in Rotherham/Derbyshire, † 1892 in London) war Maler, Zeichner, Kunstkritiker
und Schriftsteller. Als Sohn der Dichterin Ann Taylor ein klassischer man of letters, führte er eine spitze Feder, reiste viel
und verehrte Tizian über alles. Von ihm stammen die meisten Texte und
Zeichnungen des Buches „Die Entdeckung der Dolomiten“.
George Cheetham Churchill
(* 1822 in Nottingham, † 1906 in Clifton) war Anwalt in Manchester, bevor er
sich seinen wissenschaftlichen Interessen zuwandte, zumal der Botanik.
Gemeinsam mit seiner Frau und dem Ehepaar Gilbert bereiste er vor allem die
Alpen. Im Buch „Die Entdeckung der Dolomiten“ steuert er alles über Pflanzen,
Tiere und Gesteine bei.
Erwin Brunner, geboren
1954 in Innichen, Studium in Wien, begann 1980 bei „profil“ als Journalist.
Lebt seit 1982 in Hamburg. War Redakteur bei der „Zeit“, Textchef des
„Zeitmagazins“, stellvertretender Chefredakteur von „Merian“, seit 1999 von
„National Geographic“, dort zuletzt fünf Jahre Chefredakteur.
Josiah Gilbert / George C.
Churchill / herausgegeben von Erwin Brunner: Die Entdeckung der Dolomiten. 320 Seiten. Format:
12,5 × 19 cm. Hardcover, bibliophil gestaltet mit Leinenüberzug und
Lesebändchen. Edition Raetia. ISBN: 978-88-7283-635-4. E-Book: ISBN:
978-88-7283-648-4. Euro 24,90.
Sie erhalten das Buch im
Buchhandel oder hier.
Lesereise
von Erwin Brunner:
12.04.2018
| 20:00 Uhr
Bibliothek Teßmann | Bozen. Gespräch mit Ingrid Runggaldier | In Zusammenarbeit mit dem AVS
13.04.2018
| 20:30 Uhr
Naturhotel Lüsnerhof | Lüsen Lesung aus dem
Buch
16.04.2018
| 20:00 Uhr
Hotel Oberwirt | Marling, Lesung aus dem Buch
17.04.2018
| 19:00 Uhr
Ferdinandeum | Innsbruck Lesung aus dem Buch
18.04.2018
| 20:00 Uhr
Stadtbibliothek Bruneck | Bruneck
Lesung aus dem Buch
19.04.2018
| 20:00 Uhr
Öffentliche Bibliothek Olang | Olang
Lesung aus dem Buch
20.04.2018
| 19:00 Uhr
Kunstraum Café Mitterhofer | Innichen
Lesung aus dem Buch
21.04.2018
| 10:00 Uhr
Museum Gherdeina | St. Ulrich
Gespräch mit Ingrid Runggaldier und Catores-Bergführer Othmar Prinoth
Besuchen Sie mich auch unter http://www.dieterbuck.de, auf facebook und auf Instagram
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über Reisen und was schön daran ist, Artikel
über die Welt der Alpen, Artikel über Baden-Württemberg,
Besprechungen von Reise- und Wanderliteratur, Artikel
über Stuttgart, Artikel und vor allem
schwarzweiß-Fotos von und über Stuttgart für Minimalisten unter den Freunden der Fotografie; außerdem wird auf den englischsprachigen
Blog für Leben und Erleben in
Stuttgart und der weiten Welt hingewiesen.